4.2.2 Basis der Entsorgung 

4.2.2.1 Alte Lasten 

Berlin ist bis zum Ende des zweiten Weltkriegs eine Industrieregion gewesen (danach nur noch der Ostteil der Stadt). Dies hat beim damaligen Stand der Erkenntnisse über Schadstoffeinflüsse auf die Umwelt entsprechende Folgen gehabt. Altlastenverdachtsflächen sind die unmittelbare Folge. 

Altlasten sind Altablagerungen und Altstandorte, von denen eine Gefahr für den einzelnen oder die Allgemeinheit ausgeht. Altstandorte sind Grundstücke stillgelegter Anlagen oder sonstige Flächen, auf denen mit gefährlichen Stoffen umgegangen wurde. Altablagerungen sind verlassene oder stillgelegte Flächen, auf denen Abfälle gelagert wurden (BUND 1997). In Berlin kommt noch die Besonderheit der Rieselfelder hinzu, bei denen es sich auch um kontaminierte Flächen handelt, die aber andere Flächendimensionen einnehmen und nur schlecht in die Kategorie Altablagerung passen. Altlastenverdachtsflächen sind Flächen, bei denen aus der Nutzungschronologie ein Verdacht auf Kontaminationen vermutet werden kann. Ganz interessant ist, daß das Berliner Bodenschutzgesetz vom Sommer 1995 den Begriff Altlasten nicht verwendet, obwohl es weitestgehend nur den Umgang mit "Bodenverunreinigungen" aus der Vergangenheit regelt. 

Von der zuständigen Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie wird seit Jahren eine Zahl von etwa 5000 Altlastenverdachtsflächen genannt (Stand 31.12.1995: 5490). Kloos (1986) nennt die Zahlen von 155 Altdeponien, davon 94 in Trinkwasserschutzgebieten! 23 Gaswerksstandorte wurden von ihm angegeben. 

Diese Zahl wurde jedoch relativ unsystematisch erhoben. Die bezirklichen Umweltämter arbeiten schon seit mehreren Jahren an Altlastenkatastern. Sie sollen dereinst auch einem potentiellen Grundstückskäufer Aufschluß über die potentiellen Belastungen seines Bodens geben. Bei einigen Bezirksämtern ist diese Erhebung schon nahezu abgeschlossen, und es zeigt sich dort, daß für wesentlich mehr Flächen ein Altlastenverdacht besteht. Wir gehen von weit mehr als 10000 Altlastenverdachtsflächen allein in Berlin aus. Zusammen mit dem Umland dürften mehr als 15000 Flächen "verdächtig" sein. 

Die Altlasten sind in Berlin und Umland ungleichmäßig verteilt. Daher wollen wir die Bodenbelastungen und Grundwasserbelastungen (s. Kap. 5.4) in den naturräumlichen Zusammenhängen beschreiben und nicht nach nutzungs- oder schadstoffspezifischen Kriterien, wie dies sonst üblich ist (z.B. Kloos 1986). Wesentliche Datengrundlage für die folgenden Darstellungen ist die Karte Altlastenverdachtsflächen und Altlasten (SenStadtUm 1993). 

  

Altlasten im Urstromtal 

Das Urstromtal ist das klassische Industriegebiet von Berlin gewesen (s. auch Forner & Gossel 1996). Die Borsigwerke, AEG, Siemens, große Chemieunternehmen, wie heute noch Berlin Chemie, alle großen Industrieunternehmen der Stadt bauten ihre Werke in dem damals noch hauptsächlich im Urstromtal liegenden Stadtgebiet. Dazu kamen die in Berlin typischen kleinen Industriebetriebe und großen Handwerksbetriebe auf den Hinterhöfen. Sie alle produzierten mehr oder weniger die heutigen Altlasten. Ein paar Spitzenreiter auf der Hitliste der größten Altstandortflächen im Urstromtal sollen hier genannt sein (s. Tabelle 7). 

Tabelle 7: Die größten Altstandorte im Urstromtal 
 
 

 

Zusätzlich zu den kleineren Altstandorten geht noch von zahlreichen Altablagerungen insbesondere in Neukölln, Charlottenburg und Spandau eine Gefahr aus. 

Die resultierenden Kontaminationen sind sehr vielfältig. Sie reichen von anorganischen Stoffen, wie Schwermetallen und Cyaniden, über Mineralöle, polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), Phenole bis hin zu chlorierten Kohlenwasserstoffen. Der mikrobiologische Abbau der organischen Schadstoffe führt einerseits zum Auftreten von Metaboliten (Umwandlungs- und Ausscheidungsprodukten) und andererseits zu Veränderungen des umgebenden Redox- und pH-Milieus. Bei Altlasten mit einem "chemischen Zoo" aus anorganischen und organischen Schadstoffeinträgen, wie er in Berlin häufig anzutreffen ist (Beispiel Gaswerk), gibt es möglicherweise mehrere Mechanismen, die zur Adsorption, zum Abbau und zur Desorption von Schadstoffen führen. 

  • Die durch organische Schadstoffe induzierten mikrobiellen Aktivitäten können wegen der Veränderung der Redox- und pH-Bedingungen eine Mobilisierung der anorganischen Schadstoffe hervorrufen.
  • Hört der Eintrag von organischen Schadstoffen in den Boden auf, stellt sich wiederum ein anderes Redox- und pH-Milieu ein. Auch dann können anorganische Schadstoffe freigesetzt werden.
  • Dort, wo anorganische Schadstoffe (z.B. Schwermetalle) an organische Substanz adsorbiert waren, bewirkt der Abbau der organischen Substanz eine Desorption der anorganischen Stoffe.
Der Boden im Urstromtal war durch die jahrhundertelange Besiedlung schon stark belastet. Aus Bauschuttablagerungen, Fäkaliengruben und Hinterhoftoiletten resultieren hohe Nitrat-, Kalk- und Gipskonzentrationen, die sich bis ins Grundwasser ausgebreitet haben. 

Die im Urstromtal liegenden Feuchtwiesen und Moore sind mit wenigen Ausnahmen trockengelegt worden (Beispiel Rixdorfer Wiesen, vgl. auch Forner & Gossel 1996). Durch den Abbau organischen Materials (Pflanzenreste) wurde zusätzlich Stickstoff freigesetzt und im (Grund-)Wasser als Nitrat oder Ammonium gelöst. 

Gerade im hoch sensiblen Urstromtal mit seinen ursprünglich geringen Grundwasserflurabständen, das sich schon im natürlichen Zustand nicht im Gleichgewicht befand sondern nach der Eiszeit noch im Stadium der Entwicklung hin zu einem stabilen System war, wirken sich die anthropogenen Schadstoffeinträge besonders gravierend auf die Bodenfauna und –flora aus. 

Eine besondere Art von Altlasten schließlich beschäftigt immer wieder die Zeitungen: die Kriegsfolgen. Berlin war im Zweiten Weltkrieg eines der wichtigsten Zentren der deutschen Rüstungsproduktion. Dies hat einerseits an den Produktionsstandorten zu komplexen Schadstoffeinträgen in den Boden geführt, andererseits wurde Berlin und einige Städte im Umland von alliierten Bomben schwer unter Beschuß genommen. Die "Blindgänger" stellen auch heute noch eine große Gefahr dar, selbst wenn sie nicht explodieren sondern nur verrotten. Im Schlamm des Müggelsees werden beispielsweise noch mehrere Tonnen Blindgänger vermutet. Ziel der Luftangriffe war das damals wie heute für die Wasserversorgung der Stadt lebensnotwendige Wasserwerk Friedrichshagen. Im Umland ist die Stadt Oranienburg als Sitz von Rüstungs- und Munitionsproduktionsstätten in der genannten Weise doppelt belastet. Während die Wasserwerke mit den Kontaminationen der Rüstungsindustrie "kämpfen", müssen immer wieder ganze Stadtteile (z.B. von Oranienburg) evakuiert werden, weil im Zuge von Baumaßnahmen Munitionsreste geborgen werden müssen. 

  

Bodenbelastungen auf den Hochflächen 

Auf den bis Ende des letzten Jahrhunderts noch weitgehend landwirtschaftlich geprägten Hochflächen entstanden die Industriezentren insbesondere an Fließgewässern: an der Panke (Niederschönhausen und Wedding) und am Teltowkanal. Die wichtigsten Altlastenverdachtsflächen sind damit vorgezeichnet, unterscheiden sich aber dennoch in ihrer Struktur. Während entlang der Panke nur kleine Industriebetriebe siedelten, die das Flüßchen als Entsorgungsweg für flüssige Abfälle mißbrauchten, wirkte der Teltowkanal als Transportweg anziehend. Der Möglichkeit des An- und Abtransports von Rohstoffen per Schiff hatte nicht nur an der Havel, der Spree und den innerstädtischen Kanälen bzw. Häfen entsprechende Altlasten zur Folge, auch der Teltowkanal beherbergt viele "Schmuddelecken" von Berlin: die Industriegebiete Britz und Lichterfelde sowie das Gaswerk Mariendorf zählen zu den kostspieligsten Altlasten Berlins. Im Industriegebiet Britz wurde beispielsweise die Firma Pintsch-Öl Mitte der 80er Jahre für ihr Altöl-"Recycling" mit dem Umweltpreis des Senats prämiert. Die Sanierung eines Teils des Geländes, auf dem sicher einige hundert Tonnen z.T. hochbelasteten Altöls versickerten, kostete den Steuerzahler über hundert Millionen DM! Die Sanierungsfirma wurde ebenfalls mit dem Umweltpreis des Senats ausgestattet. Der am höchsten kontaminierte Teil der Fläche wurde nicht saniert. Der chemische Zoo aus PAK, Phenolen und Cyaniden am Gaswerksstandort Mariendorf hat zu Sanierungskosten von einigen 10 Mio. DM geführt. 

Für die Müllentsorgung schienen die Hochflächen ebenfalls lange Zeit wie geschaffen. Schließlich lagen die Flächen "jwd", wie die Berliner zu sagen pflegen, janz weit draußen. Heute hat sich der Ring der Müllkippen noch etwas weiter von der Stadt weg verlagert. 

Die Hochflächen hatten einen offensichtlichen Vorteil gegenüber dem Urstromtal bei der Müllentsorgung: die Entfernung zu den Wasserwerken. Noch bis heute hält sich das Märchen von den schlecht durchlässigen Geschiebemergeln, die ein Eindringen von Schadstoffen ins Grundwasser verhindern. Doch dazu mehr in Kapitel 5.2.7. 

Eine besondere Form der Altlasten finden wir praktisch ausschließlich auf den Hochflächen in und um Berlin: die Rieselfelder. In Forner & Gossel (1996) wurde die historische Entwicklung bereits dargestellt. Insgesamt sind die Rieselfelder etwa 110 km² groß. Schwerpunkte der Rieselfeldbewirtschaftung im Norden, auf dem Barnim, waren die Rieselfelder Buch, Schönerlinde, Blankenfelde und Falkenberg. Im Süden, auf der Teltowhochfläche, lagen die Rieselfelder Schenkenhorst, Sputendorf und Großbeeren. Etwas kleinere Flächen nehmen die Rieselfelder Münchehofe (auf dem Barnim), Waßmannsdorf, Mahlow, Deutsch Wusterhausen und Königs Wusterhausen (Teltowhochfläche) ein. Die Funktionsweise und die naturräumliche Entwicklung sollen hier nicht erläutert werden. Tatsache ist jedoch, daß schon durch die Anlage der Rieselfelder der Boden stark verändert wurde: Gräben und Drainagen wurden gezogen und Dämme aufgeschüttet. Die Aufleitung von Abwasser hatte jedoch noch weit größere Konsequenzen: der Oberboden wurde zeitweise überstaut und es kam zu kurzzeitigen Wechseln zwischen reduzierendem und oxidierendem Milieu. Das aufgebrachte Abwasser führte auch hinter den Absetzbecken noch organische Schwebstoffe mit sich, die die Porosität des Bodens reduzierten. Verschlickung und Verdichtung waren die Folge. Das alkalische Abwasser reduzierte die Entkarbonatisierung des Geschiebemergels. Die eingetragenen Nährstoffe (Stickstoff und Phosphate) führten zu einer großen Fruchtbarkeit des Bodens. Die hohe bakteriologische Belastung führte jedoch dazu, daß die Gemüsezucht eingestellt werden mußte. Mit dem Abwasser wurden jedoch nicht nur Nährstoffe und Bakterien aufgetragen sondern auch Salze, Schwermetalle und in zunehmendem Maße auch persistente, d.h. nicht abbaubare organische Stoffe. Der hohe Eintrag organischen Materials und die zeitweise Überstauung führten in dem z.T. stark reduzierenden Milieu zur Festlegung der Schwermetalle (sog. Sulfidfalle) und, in geringerem Ausmaß, zur Adsorption der schlecht oder nicht abbaubaren organischen Stoffe (Bechmann et al. 1995). Schwermetalle und persistente Organika reicherten sich daher im Oberboden an. Untersuchungen zeigten jedoch eine sehr ungleichmäßige Verteilung, die sich aus der Lage der betreffenden Tafel im gesamten Rieselfeldsystem sowie innerhalb der Tafel aus den Strömungsverhältnissen ergab (Blumenstein et al. 1991, Bechmann et al. 1995). Die hohe räumliche Differenzierung erschwert sowohl die Altlastenuntersuchung als auch eine wie auch immer geartete Sanierung der Flächen. Nach Einstellung der Bewirtschaftung führen die sich verändernden physikochemischen Bedingungen jetzt zu einer verstärkten Freisetzung der über ein Jahrhundert akkumulierten Schadstoffe. Durch das Regenwasser wird Sauerstoff eingetragen, der zu einem Abbau der organischen Substanz und damit zu einer Freisetzung der an sie adsorbierten Stoffe (Schwermetalle und schwer- oder gar nicht abbaubare (persistente) Organika) und der in ihnen chemisch gebundenen Nährstoffe und Salze (insbesondere Stickstoffverbindungen) führt. Der Säuregehalt des Regenwassers (pH-Wert ca. 4), seine Verstärkung durch die beim Abbau der leicht abbaubaren organischen Stoffe frei werdenden Huminsäuren und der Sauerstoffgehalt führen zu völlig veränderten Redox- und pH-Bedingungen im Boden. Die in der Sulfidfalle festgelegten Schwermetalle werden remobilisiert. 
 

 

Autor: Wolfgang Gossel
 
 
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